In Würzburg herrscht Ausnahmezustand bei der Müllabfuhr. „Aufgrund der aktuellen Situation werden im Stadtgebiet auf unbestimmte Zeit nur noch die Leerungen der Restmülltonnen gemäß dem Abfallkalender stattfinden“, melden „Die Stadtreiniger“, wie die kommunale Entsorgungsgesellschaft der 125.000-Einwohner-Stadt in Unterfranken heißt.
Und das ist einschneidend: Es gibt jetzt keine Sperrmüllsammlungen mehr, keine Grüngutabfuhr, keine Leerung der Biotonnen. Neuerdings muss zudem das Altpapier in den Haushalten bleiben.
„Die Leerung der blauen Gefäße für Papier wird ab sofort ebenfalls auf unbestimmte Zeit nicht stattfinden“, heißt es von den Stadtreinigern, die derzeit Corona-bedingt unter Personalmangel leiden.
Bei den Papierfabriken in Deutschland läuten deswegen die Alarmglocken. „Ein Ausfall bei der kommunalen Altpapiersammlung kann zu einer unmittelbaren Versorgungslücke bei den Herstellern von Verpackungs-, Hygiene- und Pressepapieren führen“, warnt Henri Vermeulen, Vize-Präsident von Smurfit Kappa Recycling und Vorsitzender des Altpapierausschusses des Verbandes Deutscher Papierfabriken (VPD).
Dadurch würden Lieferketten für wichtige Güter des täglichen Bedarfs gestört. „Ohne Altpapier gibt es weder Toilettenpapier noch Verpackungen und Zeitungen“, sagt er WELT.
Wertstoffhöfe sind dicht
Nun hängt die Versorgung der Hersteller nicht am Würzburger Altpapieraufkommen. Die Branche hat aber Angst vor einer Kettenreaktion in den kommenden Wochen. Zumal die Kommunen längst angekündigt haben, priorisieren zu müssen.
„Sollte es aufgrund von mehreren Krankheits- und Quarantänefällen in den Unternehmen zu personellen Engpässen kommen, müssen die kommunalen Betriebe bei der Entsorgung abwägen, nach den Anforderungen des Gesundheitsschutzes und der Seuchenprävention“, sagt Patrick Hasenkamp, Vizepräsident des Verbands Kommunaler Unternehmen (VKU).
Vorrang habe dann die Entsorgung von Restmüll und Bioabfällen. Schließlich könne von denen im Gegensatz zum lagerfähigen Altpapier ein Hygienerisiko ausgehen. Noch ist diese Einteilung Theorie.
„Wir sehen keinen Fall, der vergleichbar ist mit der Lage in Würzburg“, versichert der VKU. „Das Holsystem bei Papier funktioniert weitestgehend.“ Dafür sind vielerorts die Wertstoffhöfe dicht. Dort landet neben Sperrmüll, Bauschutt und alten Elektrogeräten üblicherweise auch viel Altpapier.
Begründet werden die Schließungen vor allem mit hohen Infektionsrisiken für die Mitarbeiter – weil die Menschen zuletzt offenbar die Zeit zu Hause genutzt und reihenweise Keller, Wohnungen und Garagen entrümpelt haben.
Alles daransetzen, Mülltrennung aufrechtzuerhalten
Beispiel Pfaffenhofen: In der Kreisstadt in Oberbayern bleiben die Sammelplätze von 20. bis 29. März geschlossen. „Der Besuch an den Wertstoffhöfen und Gartenabfallsammelstellen im Landkreis hat trotz eines Appells an die Bürgerinnen und Bürger eher zu- als abgenommen“, begründet Werkleiterin Elke Müller.
Das Bayerische Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz empfiehlt den Kommunen, die Wertstoffhöfe offenzuhalten, wie es in einem Schreiben heißt, das WELT vorliegt.
Ansonsten könne es zu einer Überforderung der Abhollogistik sowie einer Verringerung der Kapazitäten in den Abfallverbrennungsanlagen kommen – weil sämtliche Abfälle in der Restmülltonne landen. Das aber bedroht nicht nur die Stabilität des Systems.
In der Verbrennungsanlage gehen auch wichtige Recyclingstoffe verloren. „Wir müssen alles daransetzen, die Getrenntsammlung in Deutschland aufrechtzuerhalten“, fordert daher Peter Kurth, der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Rohstoffwirtschaft (BDE). „Denn davon hängen Produktionsketten ab.“ Wellpappe zum Beispiel, aus der unter anderem Kartons und Transportverpackungen hergestellt werden, besteht komplett aus Altpapier. Bei Faltschachteln für Lebensmittel liegt die Einsatzquote hier bei 85 Prozent.
Und Hygienepapiere, zu denen auch Toilettenpapier gehört, werden zu 50 Prozent aus Frischfasern und zu 50 Prozent aus Altpapier hergestellt. „Die regelmäßige Altpapiersammlung in den Kommunen muss daher in jedem Fall aufrechterhalten werden“, fordert VDP-Vertreter Vermeulen.
Dass die Branche darauf drängt, das Altpapier aus den deutschen Haushalten abzuholen, liegt daran, dass zeitgleich zwei weitere Effekte für Probleme sorgen. „Zum einen sind Importe schwieriger geworden, sei es durch Lkw-Rückstaus an den Grenzen oder durch die angeschlagene Personaldecke bei Logistikdienstleistern“, beschreibt Thomas Braun, der Geschäftsführer des Bundesverbands Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE).
Deutschland ist aber Nettoimporteur von Altpapier: 2018 gingen laut VDP knapp 2,8 Millionen Tonnen in den Export, umgekehrt kamen aber 4,9 Millionen Tonnen ins Land, allen voran aus den Niederlanden.
In vielen dieser Länder ist die Lage auch angespannt oder teils sogar zum Erliegen gekommen, etwa in Italien. Zum anderen gibt es deutlich weniger Gewerbemüll, beim BDE ist von 80 Prozent die Rede. Und dieser Bereich steht für rund die Hälfte des hiesigen Altpapieraufkommens.
Systemrelevante Verpackungsindustrie
Aber auch die flächendeckenden Ladenschließungen tragen dazu bei, dass Altpapier plötzlich knapp wird. Allein Ikea sorgt mit seinen Möbelpacks zu Normalzeiten für riesige Mengen Papier/Pappe/Karton, wie die Müllfraktion im Jargon heißt. Das gleiche gilt für Elektrohändler wie MediaMarkt und Saturn.
Der Markt hat sich damit in kurzer Zeit um 180 Grad gedreht. Noch vor Wochen gab es Berichte über eine dramatische Krise im Altpapiergeschäft. Wegen Überkapazitäten sind die Preise für Altpapier-Ballen im Jahresverlauf 2019 teils drastisch eingebrochen, allen voran bei den Massensorten.
Vielerorts konnten die Erlöse kaum noch die Kosten der Sammlung decken. Der VKU hat daher eine Erhöhung der kommunalen Müllgebühren nicht ausgeschlossen. Von privaten Sammlern wie Berlin Recycling gibt es Briefe, in denen eine Preiserhöhung für die Papierentsorgung zum 1. April angekündigt wird.
Dem Vernehmen nach hat mancher Papierhersteller die Altpapier-Lieferanten spüren lassen, dass der Markt über Monate überversorgt war. Entsprechend groß ist die Sorge vor Retourkutschen.
Es gibt Stimmen, die Verpackungsindustrie als systemrelevant einzustufen, meldet der Branchendienst „Euwid“. Die Argumentation: Ohne Verpackungen ist die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln gefährdet.
Und weil die die Verpackungshersteller Papier benötigen und Altpapier der wichtigste Rohstoff bei der Herstellung von Papier ist, könnte die Industrie im Fahrwasser der Systemrelevanz darauf pochen, die kommunale Altpapiersammlung aufrechtzuerhalten.